Offener Brief von Dieter Neeser

Liebe Esther, lieber Thomas

Im August dieses Jahres durfte ich Euch, zusammen mit dem Ehepaar Stouthandel in Madagaskar besuchen.
Nach einer langen Anreise über Südafrika machten wir Zwischenhalt in der madagassischen Hauptstadt Antananarivo und flogen am nächsten Tag weiter in einem «sehr kleinen Flugzeug». Gross war die Aufregung und Freude, euch dann auf der «Dorfstrasse-Landepiste» zu sehen! Unzählige Schaulustige erfreuten sich hingegen eher am Flugzeug.

Mein 3-wöchiger Aufenthalt mit euch in eurem kleinen Haus, hat mir Einblick in euer Leben in Madagaskar gegeben. Dass ihr eines der beiden Zimmer gänzlich für mich freigeräumt und ihr deswegen zeitweise auf dem Fussboden geschlafen habt, macht mich immer noch verlegen.

Ich durfte einen Einblick in eure Lebensweise erhaschen, die geprägt ist von grenzenloser, brückenbauender Nächstenliebe.

Grossartig, wie ihr beide den Spitalangestellten, Patienten, Schülern oder den Madagassen auf der Strasse mit uneingeschränkter Zuwendung und Aufmerksamkeit begegnet. Und es sind der Gespräche und Sorgen so viele, so dass euer Tag hiermit und mit eurer Arbeit restlos ausgefüllt ist. Dass da kaum mehr Zeit für euch, eure Angehörigen und Freunden in der Schweiz bleibt, erstaunt mich kaum mehr.

Ihr habt mich auch teilhaben lassen an euren Verpflichtungen. Zur Verbesserung meiner rudimentären Französischkenntnisse beigetragen haben die vielen nächtlichen Anrufe aus dem Spital:

oui, c’est Thomas…, oui, je viens!

Vom Durchschlafen konnten wir nur träumen. Der Ärztemangel im Spital verursacht zahlreiche lange und sehr anstrengende Dienste.

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Trotzdem, oder gerade deshalb waren die frühmorgendlichen Joggingtouren zauberhaft in der wunderschönen afrikanischen Landschaft. Mal erfrischend grün, dann in einem trockenen rot, alles in ein mildes, weiches Licht gehüllt, hat der Tagesanbruch die Sorgen aller, wie mit einem weichen Mantel überdeckt und für einen Moment vergessen lassen.
Für mich jedoch unfassbar: als wären die Spitalnachteinsätze nicht gewesen, warst du Thomas so vital! Hast deine Visionen und Träume in allen Einzelheiten erzählt, während ich nach Luft schnappend nebenher lief.

Physiotherapeutisch durfte ich an diversen Projekten zur Beschaffung von therapeutischen Hilfsmitteln mitwirken. So war ich oft bei der am Spital angegliederten Schlosserei oder in der nahe gelegenen Stadt bei Matratzenhändlern, Nähstuben oder Schreinereien anzutreffen. Dass ich mit dem Velo und nicht wie sonst bei den Weissen üblich, mit dem Land Rover unterwegs war, hat sicher etwas zu «meiner Bekanntheit» beigetragen. Mit Humor, einem Zeichnungsblock und gelegentlich einem süssen cadeau kann man fast alle sprachlichen Hürden überwinden. Als Ausländer, in Madagaskar «Vasa» genannt, hat man aber oft mit etwas überhöhten Preisen zu kämpfen.

Auch beim Einkauf auf dem Markt war ich mir der Aufmerksamkeit aller Marktfrauen sicher. Dies trotz meinem fortgeschrittenen Alter und den grauen Haaren: halten sich doch kaum Männer an solchen Orten auf. Aber was soll’s: immerhin weiss ich nun, wann eine Kokosnuss reif ist und wo es frittierte Bananen oder gar Heuschrecken für die Hühner zu kaufen gibt.


Tief beeindruckt hat mich im Spitalleben, dass das ganze Operationsteam unmittelbar vor der Narkose innehält und zusammen mit dem Patienten in einem kurzen Gebet Gott um Beistand bittet. Dies selbst bei dramatischen Verletzungen. Man stelle sich dies einmal in der Schweiz vor…! Aber warum eigentlich nicht? Es wäre unserem Gesundheitssystem und der Bindung zwischen Patient und Arzt sicher nur zuträglich.

Mir scheint, dass in Mandritsara Leben und Tod näher beieinander sind.

Trotzdem stellte ich fest, dass die Madagassen, wenn auch bettelarm, vielfach glücklich und lebensbejahend sind. Kann es sein, dass materieller Besitz belastet und uns in unserer «so materiellen Welt» erdrückt?

Im Rückblick sehne ich mich nach dem kleinen Frosch in eurem Badezimmer, dem «in den Schlaf summen» der Steckmücken über dem Moskitonetz und der Vanillepflanzen in eurem Garten. Und eurer Herzlichkeit, dem Humor und der entgegengebrachten stetigen Wertschätzung!
Was ich nicht vermisse sind die Kaltwasserduschen oder – bei fehlendem fliessend Wasser – das sich Waschen aus einem kleinen Becken, sowie das tägliche Geschirrspülen im verdünntem Javelwasser. Doch gerade solche Dinge zeigen mir auf, mit welchen herrlichen Privilegien wir in der Schweiz gesegnet sind.


Tragt Sorge zu Euch, ihr lieben Esther und Thomas! Eine gewisse körperliche Erschöpfung konnte ich bei euch feststellen, jedoch trotz aller Arbeit und Entbehrung keine Anzeichen von Resignation, Antriebs- oder Orientierungslosigkeit. Ihr strahlt etwas aus, gebt etwas weiter, das einmalig ist, fasziniert und zur Nachahmung einlädt. Ich selber versuche es mal vorsichtig in einem kleinen Rahmen…

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Vielen Dank und eine gute Zeit euch beiden! Ich vermisse euch!

Dieter